Milchkühe leiden
Leserbrief auch erschienen in der Allgemeinen Zeitung der Lüneburger Heide am 02.11.2021
Auf den Artikel „Der Hof der glücklichen Kühe“ (AZ vom 14. Oktober/Blick in den Norden) reagiert diese Leserin, die selbst Fachtierärztin für öffentliches Veterinärwesen ist und Gründungsmitglied des Vereins „Tierärzte für verantwortbare Landwirtschaft“ ist:
Nach ihrer Überzeugung geben Kühe heute zwar mehr Milch, sie würden dadurch aber nicht stärker beansprucht oder höher belastet. So wird Frau Christine Licher, Sprecherin der niedersächsischen Milchwirtschaft, im genannten Artikel zitiert.
Aktuelle Studien zeichnen ein gegenteiliges, trauriges Bild der Milchviehhaltung in Deutschland, insbesondere der Zucht und Haltung von Kühen der Rasse Holstein Friesian (HF):
- 54,8 % aller Kühe sind im Jahr 2019 aufgrund von Produktionskrankheiten ausgeschieden,
- im Norden sind 38,4 % der Kühe zu Beginn der Milchproduktion untergewichtig,
- 40 % der Kühe leiden im Durchschnitt an einer Eutererkrankung,
- 26,4 % lahme Tiere in der nördlichen und bis zu 39,7 % lahme Tiere in der östlichen Region finden sich im Mittel pro Betrieb*.
* Quellen:
- Artikel „Tierschutzrelevante Zuchtprobleme beim Milchvieh – Interaktion zwischen dem Zuchtziel „Milchleistung“ und dem vermehrten Auftreten von Produktionskrankheiten“; Berliner und Münchener Tierärztliche Wochenschrift 2021 (134); A. Bauer, H. Martens u. C. Thöne-Reineke
- Dissertation von Alina Bauer in Gänze: „Tierschutzrelevante Zuchtprobleme beim Milchvieh – Interaktion zwischen dem Zuchtziel „Milchleistung“ und dem vermehrten Auftreten von Produktionskrankheiten, ein systematischer Review, Diss FU Berlin, 2021
- „Tiergesundheit, Hygiene und Biosicherheit in deutschen Milchkuhbetrieben – eine Prävalenzstudie (PraRi), TiHo Hannover, FU Berlin, LMU München, 2020
Die Nutzungsdauer einer Holstein-Friesian-Kuh in Deutschland beträgt nur 2 bis 3 1⁄2 Jahre. Ausgemergelte, oftmals kaum schlachttaugliche Kühe am Ende ihres viel zu kurzen Lebens prägen das Bild der letzten Jahrzehnte. Die Zucht reagiert, aber zu spät. Traurige Bilanz: Die Nutzungsdauer der Holstein-Schwarzbunt Kühe konnte innerhalb der vergangenen 11 Jahre lediglich um 2,8 Monate – also nicht nennenswert – verlängert werden (BRS 2020).
Zwischen der Milchleistung einer Kuh und dem Auftreten von Produktionskrankheiten wie Stoffwechselstörungen, Eutererkrankungen, Klauenerkrankungen und Fruchtbarkeitsstörungen gibt es einen genetischen Zusammenhang. Dies ergab eine Fachliteraturrecherche der Jahre 1986 – 2020 (A. Bauer 2021). Die Produktionskrankheiten entstehen vereinfacht gesagt dadurch, dass die Kuh nicht in der Lage ist soviel zu fressen, wie sie für ihre Leistung, insbesondere für die Produktion der enormen Milchmengen in der frühen Phase der Milchproduktion (Laktation) unmittelbar nach der Geburt, braucht. Kurz gesagt: Sie zehrt von ihren Reserven.
Liebe Frau Licher, unsere Hochleistungskühe sind seit langer Zeit stoffwechselmäßig derart überlastet, dass eine Vielzahl der Kühe diesen Zustand nicht mehr bewältigen kann und in der Folge Produktionskrankheiten bekommt, die zur frühen Ausmerzung führen. Dass diese Gesundheitsrisiken durch die Zucht auf hohe Milchleistung genetisch bedingt sind, daran besteht kein Zweifel mehr, wie zahlreiche wissenschaftliche Studien belegen (Vgl. Bauer 2021). Es wäre schön, wenn diese Tatsachen bei öffentlichen Statements landwirtschaftlicher Verbände und Organisationen wie der ihrigen nicht immer wieder geleugnet werden würden!
Aufgefangen werden müssen diese genetischen Krankheitsrisiken zwingend durch ein gutes Betriebsmanagements. Dass dies bei weitem nicht allen Betrieben gelingt, belegen die Zahlen. Leittragende sind neben den Kühen auch die Milchbauern, die in der Branche einem starken Preisdruck ausgesetzt sind. Viele haben schon das Handtuch geschmissen. Fragt sich, ob deren Interessen durch ihre sogenannten Interessenvertretungen wirklich vertreten wurden.
Projekte wie das Altersheim für Kühe auf Hof Butenland sind eine Insel der „Ehrfurcht vor dem Leben“. Sie halten uns und unserem Tun einen Spiegel vor. Produziert wird, was der Verbraucher nachfragt. Zuletzt entscheidet jeder einzelne an der Ladentheke. Damit sind wir alle in der Pflicht. Dank Manfred Karremann und Co. kann keiner von uns sagen, er hätte von nichts gewusst.
Dr. med. vet. Julia Pfeiffer-Schlichting
Bad Bevensen
Dieses Foto einer abgemagerten Holstein-Friesian-Kuh mit Lahmheit hat Julia Pfeiffer-Schlichting selbst aufgenommen. FOTO: PRIVAT