Zum Selbstverständnis der Experten im Tierschutz

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Im Leitartikel der vetImpulse 5/2017 wird wieder einmal und zu Recht die fehlende Positionierung der Tierärzteschaft zur intensiven Nutztierhaltung angemahnt.

In der Tat fragt man sich, warum denn die berufenen Schützer der Tiere bzw. die zum Schutz der Tiere Berufenen, die über besondere Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen und sich verpflichtet haben, die Interessen der Tiere zu vertreten, warum denn diese ersten Adressaten für den Tierschutz sich nicht maßgeblich und offensiv in die öffentliche Debatte einschalten. Was der Öffentlichkeit kaum zu vermitteln ist, verstehen viele Tierärzte – vor allem aus der jüngeren Generation – selbst nicht.

Wie immer, wenn man zu verstehen versucht, warum etwas ist wie es ist, hilft ein Rückblick auf die Entstehungsgeschichte des Problems. So auch hier. Denn:

Seit Beginn der Intensivierung der Tierhaltung in Nachkriegsdeutschland gibt es eine enge Symbiose zwischen Agrarbranche und Tierärzteschaft und die Organisationen der Veterinärmedizin spielten eine wichtige Rolle bei der Förderung intensiver Tierhaltung.  Von Anfang an war die Veterinärverwaltung in die Produktionsabläufe der landwirtschaftlichen Tierhaltung integriert. Staatlich geförderte landwirtschaftliche Informationsdienste forderten dazu auf, stärker als bisher mit Tierärzten zusammenzuarbeiten, um Leistungssteigerungen zu erzielen. Um bei intensiv und unter Stress gehaltenen Tieren in industriellen Intensivtierhaltungsanlagen die Ausbreitung von Zoonosen zu verhindern, wurde die medizinische Prophylaxe etabliert. Antibiotika wurden damals auch für die Tierhaltung erschwinglich. 1965 wurde die Bundestierärzteverordnung vom Bundestag beschlossen. Nach §1 hatte der Tierarzt zur Verhütung von Leiden und Krankheiten bei Tieren und der Schaffung eines leistungsfähigen Tierbestandes beizutragen. An der veterinärmedizinischen Planung intensiver Tierhaltungsanlagen beteiligte sich zunehmend auch die Ethologie, denn Kannibalismus bei Hühnern war eines der frühen Beispiele für Verhaltensstörungen in enger Haltung. Veterinärmedizinisch wurde geforscht, wie sich solche Probleme lösen ließen „ohne die Leistungsnutzung tierischer Ressourcen zu gefährden“. Und so etablierte sich damals unter Beteiligung von Tierärzten das für die Tiere so leidvolle Stutzen der Schnäbel.

Schon zu Beginn der 60er Jahre gab es massive öffentliche Kritik an den neuen Tierhaltungsformen, in der die Tiere zu „Produktionsmaschinen“ degradiert würden. Weite Teile der Öffentlichkeit hielten Batteriehaltungen für unnötige Quälerei. Diese Kritik wurde von der Agrarbranche sehr ernst genommen, gefährdete sie doch die langfristige ökonomische Ausnutzung dieser Haltungsverfahren, das Investitionsklima und die öffentliche Förderung. Ein Verbot der Hühnerhaltung in Legebatterien stand zu befürchten, und so war das wichtigste Anliegen der Branche die Schaffung nachhaltiger Rechtssicherheit für die intensiven Formen der Tiernutzung. Ein Verbund aus Agronomie, Veterinärwesen, Ethologie und Biologie forcierte deshalb eine Reform des noch geltenden Reichstierschutzgesetzes von 1933 und prägte eine neue Konzeption im Tierschutzrecht. Der neue Ansatz nannte sich „ethischer Tierschutz“, weil Tiere ausschließlich um ihrer selbst willen, nicht aufgrund menschlicher Empfindungen geschützt werden sollten. Tierschutz wurde versachlicht, verwissenschaftlicht und zu einer reinen Sache von Experten aus Veterinärmedizin, Ethologie und Biologie. Menschliche Empfindungen wurden stets verknüpft mit „Vermenschlichung zum Schaden der Tiere“.  Mitleid mit den Tieren sowie Unrechtsbewusstsein angesichts einer leiderzeugenden Haltungsform  wurden so bis heute zu einer unzulässigen, da unsachlichen Haltung im öffentlichen Diskurs. De facto hatten und haben bis heute Ethik und Moral im „ethischen Tierschutz“ keinen Platz. Man erkennt das auch am verwendeten Vokabular. Begriffe wie „Quälerei“, „unnötig“ und „Misshandlung“ verschwanden, die neue Regelung richtete sich stattdessen am  „Verbot der Zufügung von Schmerzen, Leiden, Schäden ohne vernünftigen Grund“ aus. Nicht transparent gemacht wurde jedoch, dass „Leid“ mit naturwissenschaftlichen Methoden gar nicht messbar ist. Und nie gab es eine politische Diskussion, geschweige denn einen gesellschaftlichen  Konsens darüber, was denn unter dem „vernünftigen Grund“ zu verstehen ist. Bis heute gibt es dafür keine Legaldefinition. Weil mit der Tierschutzgesetzreform von 1972 Tierschutz zu einer rein fachlichen Angelegenheit wurde, stellte sich die Frage, wieviel ethischen Tierschutz unsere Gesellschaft haben möchte, erst gar nicht.

Tatsächlich ging es nie um vernünftige Gründe im philosophischen oder moralischen Sinn, gemeint waren ökonomische Gründe, und in der Folge wurde in Deutschland fast alles, was Wettbewerbsvorteile mit sich brachte, zum „vernünftigen Grund“ erhoben. So ist das Tierschutzgesetz von 1972, an dessen Genese Tierärzte maßgeblich beteiligt waren, bis heute de facto ein Tiernutzungsgesetz. Es schützt prioritär die Tiernutzer, nicht die Tiere. Die Ausgangsbasis für ein offensives „sich Einmischen“ in die öffentliche Debatte um den Schutz der landwirtschaftlich genutzten Tiere ist für die Tierärzteschaft also denkbar ungünstig.

Bis heute stellen tierärztliche Berufsverbände andere Interessen als den Tierschutz in den Vordergrund. An der Formulierung des Ethikkodex beteiligten sich lediglich eine Handvoll der 39000 Tierärztinnen und Tierärzte. Und auch heute noch verstehen sich viele der in der Nutztierpraxis tätigen Tierärzte, wenn sie nicht sogar selbst von der „modernen“ Tierhaltung überzeugt sind, als Reparaturtrupp, der versucht zu reparieren, was eine einseitig auf Höchstleistung fokussierte Tierzucht und „moderne“ Haltungsmethoden an den Tieren kaputt gemacht  haben. Übrigens werden auch in der Kleintierpraxis lieber lukrative  OP-Methoden für brachyzephale Hunde entwickelt, als dass sich Tierärzte diesen Behandlungen verweigern und sich massiv für ein striktes Zuchtverbot für Tiere mit übertypisierten Qualzuchtmerkmalen einsetzen,  was das „Aus“ einer solchen Hundezucht einläuten könnte. Kritische Stimmen aus den Reihen der Tierärzte bleiben spärlich. Ähnlich das Bild im öffentlichen Dienst. Hier herrscht größtenteils eine devote, defensive Haltung vor, und häufig versteht man sich nach wie vor als Dienstleister der Agrarbranche. Engagement für den Tierschutz gehört zu den eher lästigeren, weil auch aufwendigeren Pflichten, während man sich oftmals umso mehr anstrengt, der Fleischindustrie Kosten für die amtliche Überwachung zu ersparen. Spielräume für eigenes Handeln werden häufig nicht gesehen und genutzt, eigene Ziele nicht gesetzt, Kreativität und Eigeninitiative sind nicht unbedingt erwünscht. Wie immer bestätigen natürlich auch hier Ausnahmen die Regel.

Verdrängung von Tierleid funktioniert bei Tierärzten ganz gut. Handfeste Verstöße gegen den Tierschutz werden fast immer von Tierschutzorganisationen aufgedeckt, obwohl doch in den betroffenen landwirtschaftlichen Betrieben und Schlachtstätten auch Hof- und Amtstierärzte ein und aus gehen. Wir Tierärzte nehmen also trotz Berufsordnung und Ethikkodex erkennbar den Tierschutz nicht ernst genug und handeln oft erst auf Druck der Öffentlichkeit. Das muss sich ändern um der Tiere willen, aber nicht zuletzt auch, um als Berufsstand gesellschaftlich anerkannt zu bleiben.

Was wären mögliche Schritte auf dem Weg zu einer homogen und engagiert im Tierschutz agierenden Tierärzteschaft?

Zunächst gilt es zu klären, was wir Tierärzte denn überhaupt unter Tierschutz verstehen. Was soll geschützt werden, wenn wir von Tierschutz sprechen? Inwieweit ist Tierschutz für uns eine rein wissenschaftliche, eine ethische oder eine politische Frage? Ist uns Tierärzten ausreichend bewusst, dass zwar der Ablauf instinktiven Verhaltensrepertoires und Gesundheitsparameter wissenschaftlich messbar sind, aber nicht die zweifelsfrei existierende tierische Subjektivität? Kann für uns wirklich nur quantitativ erfassbares  Normalverhalten der Ausgangspunkt für Tierschutz sein? Wir wissen doch inzwischen, dass wir viele bewusste Zustände, die wir Menschen nur allzu gut kennen wie Freude, Trauer, Angst, Eifersucht und Depression genauso auch den Tieren zuschreiben können, auch wenn wir nicht exakt wissen, wie sich das für sie anfühlt. Und viele ihrer Verhaltensweisen lassen sich ohne Rückbezug auf mentale Zustände nicht erklären, so dass es nicht plausibel ist, dass diese unbewusst ablaufen sollen. Säugetiere reagieren flexibel auf die Veränderungen äußerer Umstände und ziehen daraus Lehren für die Zukunft. Sie präferieren angenehme Zustände und meiden unangenehme. Ihr höchstes Lebensziel ist genauso wenig wie unseres ein Leben ohne Schmerz und Leid,  suchen sie doch unter den jeweiligen Umständen stets aktiv das angenehme, freudvolle Leben.

Ist es also der richtige Weg, ist es ein wirklicher Fortschritt, den Tierschutz „messbarer“ machen zu wollen, wie es im Moment seitens der Politik, der Landwirtschaft und auch von tierärztlicher Wissenschaftler gefordert wird? Erfasst der (natur)wissenschaftliche Tierschutz nicht nur einen Teil des zu schützenden Gutes, aber nicht das ganze Tier? Eignen sich die „natürlichen Bedürfnisse“ der Tiere als normgebender Maßstab für Verordnungsregelungen in einer von Menschen geprägten Umwelt oder werden andere, vorzugsweise ethische Maßstäbe benötigt? Inwieweit geben wir Tierärzte der nicht naturwissenschaftlich messbaren tierischen Subjektivität, der Suche der Tiere nach Freude, Bewegung,  nach stabilen Sozialstrukturen und vielfältigen Stimulationsmöglichkeiten den notwendigen Raum, wenn wir von Tierschutz sprechen? Können wir Tierärzte die Deutungshoheit über Begriffe wie „artgerecht“, „tiergerecht“ und „verhaltensgerecht“ beanspruchen? Es ist an der Zeit, dass wir Tierärzte unter diesen Aspekten unsere bisherige Sicht auf den Tierschutz  auf den Prüfstand stellen.

Ein ebenfalls wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Homogenität im tierärztlichen Tierschutz ist,  Grenzen „nach unten“ einzuziehen. Hoftierärzte sollten zur Anzeige von Tierschutzverstößen in den von ihnen betreuten Tierbeständen verpflichtet werden. Damit diese Anzeigen nicht zu einem Wettbewerbsnachteil im Konkurrenzkampf der Praxen führen, muss das Unterlaufen dieser Pflicht sanktioniert werden können. Das Gleiche gilt für Tierärzte im öffentlichen Dienst, denn hier sind besonders die großen Vollzugsunterschiede zwischen den Ämtern ein Problem. Es geht nicht an, dass untätige Veterinärämter den engagierten Ämtern der Nachbarkreise die Arbeit erschweren und sie der Klientel gegenüber unter Rechtfertigungsdruck setzen, auch, indem sie z.B. Gebührensätze unterlaufen. Und es geht auch nicht an, dass, wie immer wieder beobachtet, Tierärzte, die versuchen, ihrer Garantenpflicht im Tierschutz nachzukommen, durch direkte oder höher angesiedelte Vorgesetzte nicht nur behindert, sondern ausgebremst und/oder bösartig gemobbt werden. Vielen Amtsträgern scheint die Pflicht zum Tierschutz, die sich aus ihrer Garantenstellung ergibt, nicht bekannt zu sein.

Es gibt jedoch weit mehr zu tun, als an dieser Stelle ausgeführt werden kann. Als Leitgedanken  für zukünftiges tierärztliches Handeln im Tierschutz wünsche ich mir:    

„Die Liebe zum Eigenen aber erweist sich durch die Selbstkritik.“

– Navid Kermani, anlässlich der Preisverleihung des Deutschen Buchhandels, Paulskirche Oktober 2015

Dr. Ines Advena
Tierärzte für verantwortbare Landwirtschaft e.V.

Literatur bei der Verfasserin